PlanungsPolitik-Forschung

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"Jeden Morgen schmieren Ehrenamtliche der Tafel Gelsenkirchen 550 Pausenbrote ...
(10. März 2018)

... die mit einem Stück Obst an ein Dutzend Grundschulen gehen." So etwas steht derzeit über das Ruhrgebiet in einer großen überregionalen Tageszeitung. Ein Erfolg sei das nicht. Ein Erfolg wäre nur, wenn mein Job irgendwann überflüssig würde, meint Hartwig Szymiczek, und er lächelt gequält.

Trollies

"Die Ungleichheit - interkontinental, zwischenstaatlich und am folgenschwersten innerhalb der Gesellschaft selbst - erreicht erneut Ausmaße, welche die auf ihre Fähigkeit zur Selbstregulierung und Selbstkorrektur vertrauende Welt von gestern ein für allemal hinter sich zu haben glaubte", schrieb Zygmunt Baumann in "Unbehagen in der Postmoderne" und er zählte auf, dass das reiche Europa nach vorsichtigen und eher konservativen Schätzungen unter seinen Bewohnern drei Millionen Obdachlose, zwanzig Millionen vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Erwerbslose und dreißig Millionen zählt, die unter der Armutsgrenze leben. Die heutigen Männer und Frauen unseres Gesellschaftstyps leben "immerfort mit einem ungelösten Identitätsproblem", so fährt Baumann fort. "Sie leiden, so könnte man sagen, unter einem chronischen Mangel an Ressourcen, mit deren Hilfe sie sich eine wirklich beständige, dauerhafte Identität aufbauen, diese verankern und am Abdriften hindern könnten".

30 Sozial- und Flüchtlingsverbände äußerten sich deswegen zur jetzigen Krise und dem Streit um die Essener Tafel, die sich weigerte, Neukunden aufzunehmen, wenn sie nicht Deutsche sind, was auch für Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband "ethnische Diskriminierung ist, die man schnell korrigieren müsse". Die Verbände fordern nun zusammen mehr staatliche Hilfe für bedürftige Menschen: "Zusammen fordern sie eine Erhöhung der Regelsätze für Hartz IV und Sozialhilfe. Im Gespräch ist eine Steigerung um mindestens 30 Prozent. (...) Dadurch soll verhindert werden, dass Arme zunehmend gegeneinander ausgespielt werden." (Christian Gschwendtner: Kinder erhalten 2,77 Euro pro Tag für Essen, in: SZ 7. März 2018, p. 1)

Für 100 Jahre konnten die Großen der Ruhrindustrie die finanzielle Notlage der Stahl- und Ruhrbergbau-Familien in den Medien platt protzen ...

Als Kaiser Wilhelm II den Krupps in der Villa Hügel seine Aufwartung machen wollte, ließ Krupp ohne Federlesen einen eigenen Bahnhof dafür in Essen-Bredenay bauen, dessen Einweihung das Elend der Ruhr-Soldaten in den Schützengräben des I. Weltkriegs medial untergehen ließ. Als vor 40 Jahren Thyssen, Krupp und Mannesmann mit immer größeren Hochöfen, Stahlwerken und höheren Schornsteinen an das Duisburger Rheinufer drängten, um mit überseeischer Kohle und Erzen aus Brasilien in der internationalen Gewinnzone für die Stahlproduktion mitzuschwimmen, waren Wohngebiete und Siedlungen wie Huckingen, Bruckhausen und Hochfeld auf einem gigantischen Streifen von Nord nach Süd über 20 Kilometer abzureißen. Es war das passive Zurückweichen der Wohngebiete vor den Industrieanlagen und der Menschen aus ihren Wohnungen wert, was da vor sich ging. Es war den zukünftigen "blauen Himmel im Ruhrgebiet" wert und die Sonderopfer auch, die für die Weltgeltung der deutschen Montanindustrie zu erbringen waren. Musste man sie nicht abfeiern?

War der Ideenwettbewerb "metropoleruhr" 2013 der Abschied des Ruhrgebiets von rücksichtsloser großindustriellen Protzerei?

Es gab tatsächlich in den Tagen dieses Ideenwettbewerbs mit etwa 300 Menschen und vor der Presse im Saal endlich offene Worte zu den hartnäckigen Gebäudeleerständen, den Arbeitsplatz- und Armutsproblemen in großen Teilen des Ruhrgebiets. Es wurde über Bildungsdefizite und neue Aufgaben für die Hochschulen der Region geredet, gern auch darüber, dass Schulen und Hochschulen auch Umsteigepunkte auf Bus oder S-Bahnnetze gedacht werden müssten oder als Umschlagspunkte für Mikroökonomien der Nahrungsmittelproduktion oder Kristallisationspunkte einer neuartigen Stadtkultur und einer kleinräumigen, stadtteilnahen alltagstauglichen Wissensproduktion. Ein regionaler Aktionsplan Armutsbekämpfung nördlich der A 40, dem Sozialäquator des Ruhrgebiets, sollte angegangen werden, der 30 Jahre Erfahrungen "Soziale Stadt" hier zusammenführt, Exklusion durch Inklusion ersetzt und daraus einen erfolgversprechenden Entwicklungsmechanismus für die Emscherzone schmiedet, der der IBA-Emscherpark das Wasser reicht. "Der so genannte Strukturwandel des Ruhrgebietes ist ein Mythos", sagte damals Arnold Voss. "Die Region benötigt einen Paradigmenwechsel von 'wir kämpfen dafür, dass es so bleibt, wie es war', hin zu 'wir ändern das, was wir aus eigner Kraft ändern können, so schnell wir möglich'. Und was wir aus eigener nicht ändern können, lassen wir." (2. Zukunftsforum, ideenwettbewerb zukunft metropleruhr, Essen, Oktober 2013, p. 5 und 6)

All das war nur Gerede, das man druckte. Realität wurde daraus nicht. Realität wurden 2018 die 550 täglichen Pausenbrote der Gelsenkirchener Tafel aus Spendengeldern.