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Kommentare

Flüchtlingsunterkunft bei AfricanTide e.V. - für unbegleitete Jugendliche
(20. Oktober 2016)

Selbstverständlich wird mit diesem Kommentar die Unterkunftsproblematik von Flüchtlingen nicht ausdiskutiert. Er diskutiert aber ein mir wichtiges Detail der Flüchtlingsschicksale, den besonderen psychologische Stress von Kindern und Jugendlichen. Sagen wir, der 17-jährige junge Mann, der aus dem syrischen Bürgerkrieg nach Deutschland floh, hieß Nazim. Zu seinem Schutz haben wir verabredet, diesen Namen als sein Pseudonym zu nutzten. Denn mit den syrischen Geheimdiensten war nie zu spaßen, seit der Assad Clan die politische Herrschaft in Syrien übernommen hatte.

Nazims Familie wurde durch eine Angriffswelle von Soldaten Baschar Hafiz al Assads auf angebliche Rebellenviertel von Aleppo so gut wie ausgelöscht. Seine Mutter wurde direkt neben ihm durch eine Granate zerfetzt, etwas, das Nazim nie vergessen wird und kann. In Aleppo wurde der Bürgerkrieg schon länger an allen möglichen Fronten und mit allen Mitteln geführt. Die Al-NURSA-Befreiungsfront, eine Abspaltung der Alquaida und die Freie Syrische Armee (FSA) hatten Kämpfer in Aleppo, der größten Stadt im Norden Syriens. Sie hatten dem syrischen Präsidenten den Krieg erklärt. Assad wurde schon in Dokumenten von Human Right Wach aus dem Jahr 2015 vorgeworfen, er habe, seit er im Jahr 2000 zum Generalsekretär der Baath-Partei und dann als Staatspräsident gewählt wurde, zehntausende Gegner seines Regimes ins Gefängnis gesperrt. In den ersten drei Jahren seiner Herrschaft habe er 65.116 innenpolitische Gegner, meist zivilen Hintergrunds, verschwinden lassen.

Der IS bekämpfte seit 2010 überall mit unverhüllter Gewalt und mit Waffen im Anschlag die Nursa-Front, die Jesiden und andere "Ungläubige". Die kurdischen Peschmerga kämpften gegen die Assad-Truppen seit 2015 um freien Zugang in der nordsyrischen Grenzstadt Raqha, nicht unendlich weit entfernt von Aleppo, um einen freien Korridor für Flüchtlinge des Bürgerkriegs in Syrien Richtung Türkei zu schaffen. Der Kriegsverlauf ist immer so ungefähr der gleiche. Kämpfer der Opposition gegen Assad beziehen Stellung in einem Stadtviertel, in dem sie auf Unterstützung der Bevölkerung zählen können. Dann rückt Assads Artellerie an, um die Menschen zu "befreien", wie es im syrischen Staatsfernsehen immer heißt. Mal bricht der militärische Widerstand in sich zusammen, mal ist er erfolgreich - so lang nicht Angriffe einer nicht identifizierbaren Luftwaffe mit ihren Bomben alles und alle in Schutt und Asche versinken lassen. Es ist wohl unstrittig die russische Luftwaffe, die diese brutalen Angriffe fliegt.

In den Aleppo nahm man damals, als Nazim sich entschloss, unbegleitet nach Deutschland zu fliehen, den Krieg tagsüber nur im Abstand von einer oder einer halben Stunde wahr. Mit den Luftangriffen traf aber das Zerbersten von Beton und ganzen Straßenzügen ganze Viertel. Nazims Elitefamilie lebte in einem der wohlhabenden Stadtviertel. Dort hatten ihn die Eltern in einer guten höheren Schule untergebracht und sorgten sich auch sonst um seine Erziehung. Wahrscheinlich half ihm das auch auf seiner jahrelangen Flucht. Auf der Flucht kümmerte sich keiner mehr wirklich um ihn. Er musste lernen, sich auf eigene Faust durchzubeißen, mit allen Mitteln zu überleben. Er hungerte, kämpfte ums Überleben und wanderte im Flüchtlingsstrom der Syrer von 2013 bis 2015 irgendwie mit, der über die Türkei, Griechenland und die Balkan-Staaten zunächst nach Österreich führte. Aber Nazim wollte immer nach Deutschland. Dort landete er schließlich auch, und zwar in Dortmund. Auch da hat keiner auf ihn gerade gewartet. Er konnte sich das nicht aussuchen.

Es war die überraschte, wenig routinierte deutsche Aufnahmepolitik von 2015, die Nazim dort hin brachte. Nazim kam als einer der über 1.200 unbegleiteten Jugendlichen, die 2015 sieben Monate lang in Dortmund untergebracht werden mussten. Am Anfang waren es 50 Jugendliche, für die gesorgt werden musste - für ein Dach über dem Kopf, für Essen, Kleidung, das Ankommen in Deutschland und die Registrierung seines Asylantrags. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle waren es an einem Tag 135 Jugendliche, die in Dortmund eintrafen.

Für Jugendliche waren im Aufnahmeverfahren die Jugendämter "zuständig". Sie wiesen die Jugendlichen zu und sie hatten Glück in Dortmund. Dort gab es "African Tide Union", einen afrikanischen Verein, der schon 1912 afrikanische Kinder in einem angemieteten kleinen Haus in Dortmund-Dorstfeld untergebracht und gelernt hatte, dass zur Versorgung der Kinder auch ärztliche und psychologische Betreuung der Fluchttraumata mitzufinanzieren ist, ohne die eine Rückkehr in ein normales Leben unmöglich ist. Mit einem Tagessatz von 1,34 Euro pro Tag vom Jugendamt geht so etwas nicht. Dafür musste extra Geld aus anderen Unterstützungsquellen besorgt werden. Und sofortiges Erlernen deutscher Sprache ist notwendig, um sich in der ungewohnten, nicht mehr Flucht bestimmten Umgebung selbständig zu bewegen, zurechtzufinden und durchsetzen zu können. Taschengeld von 94,86 Euro im Monat hilft, aber führt nicht von allein zum Ankommen in Deutschland. Alle geflohenen Kinder und Jugendlichen sind traumatisiert, und der psychologische Dienst der Kinderpsychiatrie weigerte sich schon mal, einen Jugendlichen aufzunehmen, wenn es keinen Krankenschein gibt, der beantragt wurde - wer weiß so etwas schon - oder wenn sie Kinder für Selbstmord gefährdet hielt. Also hatte man ehrenamtlich tätige Ärzte und ehrenamtliche Psychologen zu finden und Kinder und Jugendlichen immer zu begleiten, wenn es zur ärztliche Betreuung geht.

Als es 2015 Randale von Jugendlichen in der Sporthalle der Brüggemann-Schule in Dortmund gegeben hat, die ziemlich provisorisch zu einem allgemeinen Aufnahmelager umfunktioniert worden war, rief der Stadtdirektor bei "African Tide" an, dem Verein, von dem er gehört hatte, dass er sich mit Flüchtlingskindern beschäftigt hatte. RosaLyne Dressmann, die Gründerin und Vorsitzende von African Tide und ihr Team suchten und fanden eine größere Unterkunft in der Nähe der Technischen Universität und nahmen sich der ersten 50 unbegleiteten syrischen Jugendlichen an. Auch sie waren traumatisiert, am Boden zerstört bei schlechten Nachrichten von "zu Hause". Es hätte keinen Sinn gemacht, sie in eine Regelschule zu schicken. Viele waren nicht europäisch alphabetisiert. Alle hatten zu lange ohne Schule gelebt. Warum sollten sie jetzt in eine ordentliche deutsche Schule gehen? RosaLyn ließ sie malen oder Theater spielen. Dann kam Deutsch Sprechen und Lesen dazu. Unter den ersten 50 unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen war auch Nazim. Nazim lernte schnell, auch wenn es auch für ihn Anfangs schwer war, sich zu konzentrieren. Er wusste tief in sich, das Leben wird weiter gehen, ich wollte nach Deutschland, um mit meiner Schulbildung aus Aleppo etwas anzufangen. Jetzt kann es vielleicht gelingen. Und tatsächlich gelang es ein Jahr später, Nazim mit einer Sondergenehmigung in der TU Dortmund einzuschreiben. Wir verraten nicht, was er heute studiert - zur Wahrung seiner Anonymität.

Nicht alle haben die günstigen Voraussetzungen von Nazim, um nach der Flucht einigermaßen unbeschwert den Weg in ein selbständiges Leben zu machen. Nicht alle können heimliche oder offene Diskriminierung als Ausländer und Fremde von sich abtropfen lassen als wären sie nicht eben das: persönliche Diskriminierung. Alle unbegleiteten, jungen Flüchtlinge brauchen die Chance, eine auf ihre Begabung passende Ausbildung anzufangen. Alle brauchen eine Rüstung der Unverletzbarkeit.

Die Balkan Route ist seit dem Sommer 2016 durch Grenzzäune versperrt. Die deutsche Aufnahmepolitik für Flüchtlingen ist restriktiver geworden. Es kommen kaum noch ein oder zwei unbegleitete Jugendliche pro Monat aus Syrien oder Afghanistan in Deutschland an. Damit lässt sich keine eigenständige Unterbringung und Betreuung von unbegleiteten Kindern oder Jugendlichen mehr finanzieren, auch nicht von AfricanTide Union.

AfricanTide Union e.V. nimmt gern Spenden an. Überweisungen bitte auf ihr Konto bei der GLS Gemeinschaftsbank, Bochum, IBAN: DE 21 4306 0967 4102 9045 00