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Industrialisierungswahn im Ruhrgebiet angegriffen - durch die Bauern in Datteln und Waltrop
(24. Oktober 2015)

Im von aufgepappten Images geprägten kollektiven Bewußstsein des Ruhrgebiets rangiert die Region um Datteln und Waltrop weiter hinten, hinter dem Ruhr- und Emschertal, hinter Essen oder Duisburg. Es fehlt ihr an heroischen Projekten der Industrialisierung, mit denen nämlich die Geschichte im Ruhrgebiets geschrieben wird. Doch: Es gibt die spektakuläre Kreuzung zweier Frachtkanäle, des Dortmund-Ems-Kanals und des Rhein-Herne-Kanals, über die Kohle und Stahl aus dem östlichen Ruhrgebiet heraus in die Weltmärkte hinein und Massengüter aus den Weltmärkten ins Ruhrgebiet hinein geschleust werden konnten. Sicher doch: Auch Waltrop hatte eine Zeche. Sie ist heute ein Stück Konversion industrieller Landschaft und Bausubstanz. Sie ist der fein umgebaute Sitz und ein Kaufhaus der Firma Manufactum. Und es gibt die "Dortmunder Rieselfelder", noch immer ein spektakulär großer Landschaftsraum im dicht bebauten Ruhrgebiet und eine ländliche Idylle, in der die Stadt Dortmund im frühen 20. Jahrhundert ihre städtischen Abwässer entsorgt hatte.

Ungebrochen beherrscht die Stadtentwicklung quer durch das Ruhrgebiet, dass für industrielle Entwicklung jedes Opfer gut ist. Vierzig Jahre ist es her, da sollte ein Atomkraftwerk in der Lippeschleife bei Waltrop und Datteln die natürlichen Ressourcen dieses Landstrichs an der Lippe völlig ruinieren. Die verbrecherische Atomstromproduktion sollte im Ruhrgebiet zu einer Quelle des Profits der RWE werden. Daraus wurde wegen der Anti-Atom-Bewegung nichts. Aber da die Betreiber dieses historischen Unsinns den Hals nicht voll kriegen konnten, planten sie daraufhin zweierlei. Sie ließen durch E.on ein erstes Kohlekraftwerk in Datteln bauen, 2007 ein um Vieles größeres nach Gutsherrenart unter Missachtung etlicher Planungs- und Umweltvorschriften. Sein riesenhafter Kühlturm steht heute ungenutzt in der Gegend herum. Der Bau musste unterbrochen werden, weil Anwohner des Kraftwerks sich mit viel Beifall aus der Region wehrten, auch gerichtlich wehrten und von der Justiz Recht bekamen. Der Bebauungsplan für das neue Kraftwerk wurde von diversen Gerichten als grob fehlerhaft kassiert. Gerade lief der Anhörungstermin für eine neue Baugenehmigung. Wird es jetzt grünes Licht für dieses unverändert massive Hindernis für Klimaschutz und Energiewende geben? Das wird spannend.

Aber auch das alte Atomkraftwerksgrundstück an der Lippe sollte den RWE Geld durch industrielle Verwertung bringen. Es hatte sich unbebaut als großer Landschafts- und Landwirtschaftsraum erhalten. Genau das war für Industrialisierungsfreaks bei den RWE der richtige Platz dafür, wenigstens statt des AKWs ein neues Industriegebiet anlegen zu wollen, das schließlich 2003 heuchlerisch "newPark" genannt wurde. Eine Planungs- und Entwicklungsgesellschaft sollte dafür stattliche 450 ha entwickeln. Davon steht bis heute - nichts. Es fanden sich nämlich keine Investoren, die ein Projekt dort hätten realisieren wollen. Es gab ja nicht einmal eine Straße, eine Stromleitung oder eine Abwasserleitung, an die man sich hätte anschließen können. Es gab "nur" Landwirte, die die Flächen bewirtschafteten und Natur.

Jahrzehnte lang trugen nun Grüne aus Waltrop und des örtliche BUND viel richtige Kritik an dem newPark-Projekt zusammen. Gewichtige Bodenschutz-, Wasserschutz- und Naturschutzargumente wurden vorgetragen. Die Gefährdung der Singvögel und Lurchen im Flora-Fauna-Habitat der Lippe Aue wurde untersucht und aufgeschrieben. Regionalwirtschaftliche und agrarwirtschaftliche Argumente wurden angestrengt, auch die Bedeutung der ehemaligen Rieselfelder und der Lippeschleife als Frischluftschneise für das gesamte mittlere Ruhrgebiet hervorgehoben. Das unerfüllte Bedürfnis nach gesunden und ortsnah produzierten Spargeln, Milch, Gemüse und Kartoffeln spielten eine Rolle. Die Aussicht war nicht gering, am Ende nichts anderes zu bekommen als ein oder mehrere schlappe Logistikzentren und noch dazu erleiden zu müssen, wie der LKW-Verkehr auf den Straßen explodiert.

Aber es gab den Kreis Recklinghausen und die mächtige SPD- und CDU-Mehrheit, die den Industrialisierungswahn für den newPark politisch aufrechterhielt, auch nachdem das Land NRW 2013 eine Bürgschaft für den Flächenankauf in der Höhe von 17,5 Millionen ablehnte. Es hielt die Millionenausgabe für nicht zu verantworten. Der Kreis kaufte den RWE im Frühsommer 2015 die 500 ha Bauernland für sage und schreibe 23,75 Millionen EUR irgendwie einfach ab - und setzte sich über die Vorverkaufsrechte der Bauern und Pächter für agrarische Flächen in den Rieselfeldern hinweg.

Aktuell werden 95 Prozent der 500 ha land- und forstwirtschaftlich genutzt. So soll es auch bleiben, meinen die Rieselfeldbauern und -pächter schon lange. Dort wird eine Landwirtschaft betrieben, die alles kennt, Vermarktung auf internationalen Märkten und den Verkauf einer facettenreichen Kleinproduktion vom Hof für Leute aus der Region, die vorbeikommen, weil sie die Lebensmittel und diese inselartige Bauernlandschaft als Erholungs- und Freizeitraum mögen und nutzen. Die Bauern kündigten im Juli durch einen Vertreter der Landwirtschaftskammer NRW an, gegen den Verkauf der RWE-Flächen an den Kreis Recklinghausen mit dem deutschen Grundstücksverkehrsgesetz unter dem Arm zu Felde zu ziehen. Es sieht das Recht vor, landwirtschaftlich genutzte Grundstücke in ihrer bisherigen Nutzung zu schützen. Landwirte könnten nach diesem Gesetz sowohl als Eigentümer und als Pächter in den Rieselfeldern bleiben und als Käufer bevorzugt zu werden. 31 Landwirte und Landwirtinnen aus Datteln und Waltrop machten mit. Schließlich waren ihre Vorfahren unter preußischer Regie teilweise für die Dortmunder Abwasser-Entsorgung enteignet worden. Und sie brauchen diese Flächen heute unbedingt, um ihre Betriebe weiterentwickeln zu können. Dieser Schachzug verbreitete sofort politischen Alarm von der newPark-Arbeitsgruppe des Kreises Recklinghausen bis in das grüne Ministerium NRWs für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz. Denn gab es nicht rechtsgültige Pläne der Landes- und Regionalplanung, die den newPark festgeschrieben hatten, und hätten die nicht Vorrang vor den wirtschaftlichen Interessen einzelner Landwirte?

Die Landwirtschaftskammer revolutionierte nicht. Ihre Stellungnahme stimmte dem Verkauf der 500 ha an die Grundstücksgesellschaft des Kreises Recklinghausen zu. Sie erlaubte den Verkauf an den Kreis Recklinghausen wegen der regionalen Pläne für das newPark_Projekt, allerdings unter einer Serie von Auflagen, die nicht von Pappe sind wie zum Beispiel der, dass der Kreis die jetzt landwirtschaftlich genutzten Grundstücke weiterhin und so lange an Landwirte verpachtet, bis klarste und detaillierte rechtliche Voraussetzungen und Bedingungen für eine industrielle Nutzung da sind. Für die Bebauung verlangte sie Maßnahmen zum Bodenschutz und forderte, dass landwirtschaftliche Flächen der Rieselfelder nur dann für so genannte Ausgleichsmaßnahmen herangezogen werden dürften, wenn die Käuferin partout nicht anderswo ausgleichen kann. Und die Landwirtschaftskammer forderte, dass die Grundstücke dann an Landwirte "oder eine Siedlungsbehörde" verkauft werden müssten, wenn sich das Industrialisierungsprojekt dauerhaft als nicht umsetzbar erweist. Leider verpuffte die schöne Initiative der Landwirte im Sommerloch und im Gestrüpp unzureichender Beratung. Kein Landwirt und auch kein grüner Minister versuchte, ein Vorkaufsrecht wahrzunehmen. Schade um diese einmalige, aber verpasste politische Gelegenheit. Man hat die zugegebenermaßen kurzen Fristen für einen Vorkauf verstreichen lassen.

Der Kreis Recklinghausen will gegen den Entscheid der Landwirtschaftskammer klagen, hört man. Die Auflagen seien viel zu scharf. Bevor über eine solche Klage entschieden wird, werden Jahre vergehen und nichts newPark- Ähnliches wird gebaut werden können. Das ist gut so. Jeder Neubau wird mit den Jahren schärferen Auflagen der Energieeinsparung und des Schutzes natürlicher Ressourcen unterworfen werden müssen. Und auch das ist gut so. Prozesse sind keine schlechten Gelegenheiten für die Zivilgesellschaft, ihre Opposition unter die Leute zu bringen. Es bleibt nach wie vor klug, schön und zukunftsträchtig, der landwirtschaftlichen Entwicklung in der Lippeschleife zwischen Waltrop und Datteln unter die Arme zu greifen und sie als ein starkes Stück Ruhrgebiet zu verstehen. Man sollte ihr Vorrang einräumen und den 31 Landwirten behilflich sein, eine Wende der Regionalentwicklung in Waltrop und Datteln ökonomisch und ökologisch gut zu überstehen.